Multimorbidität - Wenn Krankheiten interagieren

Seit Januar dieses Jahres arbeitet Professor Edouard Battegay in Teilzeit im Hausärzte-Team der Merian Iselin Klinik. In den letzten Jahren hat er sich zunehmend wissenschaftlich für das klinische Management von multimorbiden Patienten mit komplexen Krankheitsbildern interessiert.

Hypertension bluthochdruck Hypertension bluthochdruck

Momentan entwickelt er einen «Innovation Hub, International Center for Multimorbidity and Complexity in Medicine». Mit diesem Innovation Hub sollen verschiedene Institutionen zu einem Netzwerk der Forschung und der Wissensvermittlung in der Schweiz und international zusammengebracht werden. Auch hier an der Merian Iselin Klinik ist er mit Dr. Martin Spoendlin intensiv dabei Projekte durchzudenken. Ein Erstes zum Thema Hüftgelenksersatz und gleichzeitig Depression.

Edouard Battegay

Professor Battegay ist in Basel aufgewachsen, hat hier Medizin studiert und war dann viele Jahre lang Direktor (Chefarzt) der Klinik und Poliklinik für Innere Medizin am Universitätsspital Zürich. Ende September 2020 ist er von der Direktion der Klinik zurückgetreten, um sich vorwiegend ärztlichen wissenschaftlichen und publizistischen Interessen zu widmen.

Interview mit Prof. Dr.med. Edouard Battegay

Professor Battegay erklären Sie uns kurz, was man unter Multimorbidität versteht

Unter Multimorbidität versteht man das gleichzeitige Auftreten mehrerer Erkrankungen in einer Patient*in. Also zum Beispiel, wenn eine Patient*in gleichzeitig Atemnot bei schwerer Lungenerkrankung und Depression hat, oder wenn eine Patient*in mit hohem Blutdruck (Hypertonie) gleichzeitig ein Kniegelenksproblem mit Schmerzen hat.

Die National Library of Medicine der USA definiert "Multimorbidität" als "das komplexe Zusammenspiel mehrerer koexistierender Krankheiten". Multimorbidität ist also nicht einfach eine Häufung von Krankheiten, sozusagen ein Erbsenzählen von Erkrankungen. Es ist eine Konstellation, in der sich Krankheiten in die Quere kommen. Zum Beispiel kann die Behandlung von Knieschmerzen mit Schmerzmitteln bei einem Patienten mit hohem Blutdruck und einer Nierenproblematik schwierig sein, weil sehr gebräuchliche Schmerzmittel den Blutdruck steigern können und die Funktion der Niere einschränken können. Die Schmerzen aber wiederum können den Blutdruck steigern. Ein Teufelskreis.

Trifft Multimorbidität vor allem ältere Menschen?

Je älter wir werden, desto eher häufen wir Krankheiten und Gesundheitsprobleme an. In einer grossen schottischen Studie hatten über 55jährige im Durchschnitt 2 oder mehr Gesundheitsprobleme. Aber in der eben genannten Studie aus Schottland war auch ca. jedes 50igste Kind multimorbide. Multimorbidität ist also nicht einfach ein Altersphänomen.

Ich denke, dass Multimorbidität häufiger geworden ist. Die Lebensumstände haben sich massiv verbessert und die Medizin ist viel erfolgreicher als früher. Deshalb erleben wir eine erste Erkrankung, die dann chronisch wird, erleben eine zweite Erkrankung, die dann chronisch wird, etc. Ein extrem hoher Blutdruck führte noch bis in die 50iger Jahre des letzten Jahrhunderts unaufhaltsam und innerhalb von Monaten zum Tod, Menschen erlebten keine zweite Erkrankung.

Und dann gibt es Ursachen, die zu mehreren Krankheiten führen, zum Beispiel das Rauchen. Oder jemand baut einen Verkehrsunfall, verletzt sich schwer und rutscht dann in eine Schmerzproblematik und Depression, hat chronischen Schwindel aus verschiedenen Gründen und kann nicht mehr zu seiner Arbeit zurückkehren. Das wäre zum Beispiel eine typische Verkettung von Umständen, die zu einer Multimorbidität auch bei einer jüngeren Person führen kann. Das Sprichwort «ein Unglück kommt selten allein» trifft die Sache vielleicht ganz gut.

Über Jahre verschieden Medikamente einnehmen zu müssen, was kann das bedeuten?

Das hängt natürlich vom jeweiligen Medikament ab. Sehr häufig sind Situationen, wo wir wegen einer zweiten Krankheit ein Medikament geben müssen, das wir wegen einer ersten Krankheit eigentlich nicht verwenden sollten. Ein häufiges Dilemma. Wir müssen uns in Absprache mit einer Patient*in über Kontraindikationen hinwegsetzen. Einige Beispiele; Jemand hat einen sehr schweren Asthmaanfall und braucht deshalb vorübergehend hochdosiert Cortison als Tabletten, hat aber gleichzeitig einen Diabetes, den das Cortison durcheinanderbringt. Jemand soll operiert werden, braucht aber wegen einer Herzrhythmusstörung eine Blutverdünnung. Oder wie schon erwähnt, jemand mit einem hohen Blutdruck hat eine Schmerzproblematik und braucht deshalb Medikamente. Letztere Kombination findet sich bei etwa 5% der erwachsenen Bevölkerung. Hier spezialisieren wir uns im Hausärzte-Team jeder individuell, aber auch als Team, auf das gemeinsame Management manchmal komplexer Situationen.

Wie kann man Multimorbidität vorbeugend entgegenwirken?

Dazu wieder ein paar Beispiele: Man beginnt als Jugendlich*er zu rauchen, bleibt dann daran hängen: Irgendwann kommen Lungenprobleme und Herzproblemen dazu. Alkohol und/oder Drogen führen zum Beispiel zu einem schweren Unfall oder Erkrankung und diese dann zu einem Strauss von Problemen. Mangel an Bewegung und Muskelkraft fördern die Entwicklung von hohem Blutdruck, Diabetes und Übergewicht. Letzteres ist wiederum häufiger mit Gelenksproblemen verbunden. Und vielleicht als letztes Beispiel eine ältere Dame, die zu Hause alleine unterversorgt und mangelernährt lebt, geht nur noch schlurfend, stolpert über eine Teppichkante, stürzt und bricht sich die Hüfte. Hier gilt es dann eine weitere Verletzung ein paar Wochen darauf mit Oberarmfraktur zu verhindern, mit einem komplexen Set von Massnahmen.

Diese Prävention in verschiedenen Thematiken ist einerseits individuell, aber andererseits auch eine politisch-öffentliche Herausforderung. Wie beugen wir solchen Problemen durch Drogenpolitik, Verkehrspolitik, Betreuung alternder Personen, etc. als Gesellschaft vor? Vermehrt sollten Erkrankungen, Unfälle, Operationen und Rehabilitationen als Gelegenheit genützt werden, kontinuierliche Gesundheitserhaltung gemeinsam zu überlegen, im Sinne von Überlegungen zur Ursachenforschung.